Der folgende Text ist von Pfarrer Frank Stoll. Er stammt aus den Archiven des Heimatforschers Fritz Eib. Ende 1933 wurde er im Gemeindeblatt Woerth-Spachbach veröffentlicht.
Die Weltwirtschaftskrise, eine Sozial- und Finanzkrise, die auf den amerikanischen Börsencrash von 1929 folgte, hatte ihren Höhepunkt erreicht. Adolf Hitler war seit elf Monaten deutscher Bundeskanzler, und ganz Europa war von einem Anstieg des Extremismus erfasst. In Frankreich wuchs in einer Zeit großer politischer Instabilität das Misstrauen gegenüber dem parlamentarischen System.
Wo ist Frieden? In der Familie ist Frieden selten geworden. Noch nie waren die Gegensätze zwischen zwei aufeinanderfolgenden Generationen so scharf wie in der Kriegszeit. Da verstehen oft die Eltern die Kinder und die Kinder die Eltern nicht mehr. Dazu kommt noch das unruhige moderne Leben mit den mannigfachen Zerstreuungen und Veranstaltungen, die es uns täglich bietet. Die einzelnen Familienglieder haben keine Zeit mehr für einander; so werden sie auseinandergerissen. Für viele ist die Familie eine vorübergehende, überlebte Gesellschaftsform. Das Wort „familiensimpeln“1 drückt den ganzen Mangel an Ehrfurcht und Achtung des Friedens störenden Zeitgeistes aus.
Auch im Staat ist Frieden schwer zu finden. Die Einheit des Staates wird durch das Parteiwesen stark bedroht, dessen bedauerlichen Auswüchse bei Neuwahlen besonders deutlich hervortreten. Da werden Menschen durch die Parteiführer so sehr verhetzt, dass sie Andersdenkende wie die ärgsten Verbrecher hassen. Wie soll das ein friedliches Zusammenwirken im Dienst der Gemeinschaft noch möglich sein?
Wenn wir erst bedenken, wie die einzelnen Staaten zueinanderstehen, dann wird uns um den Frieden ganz bang. Noch nie haben die Diplomaten so vollständig versagt wie in letzter Zeit. Von Abrüstung wollen wir gar nicht reden, den es gelingt ihnen nicht einmal das verhängnisvolle Wettrüsten zu beschränken, das zwischen den um Frieden besorgten Staaten begonnen hat. – So wird ein neuer, furchtbarer Krieg vorbereitet, der uns alle zu zerstören droht. Wir sehen ein, dass wir in den Abgrund des sicheren Verderbens gleiten und können dennoch nicht den furchtbaren Sturz aufhalten. Es ist uns wie einem Bergsteiger zu Mut, der auf faules Gestein geraten ist. Kaum hat er sich in einer Felsenritze festgekrallt, so bröckeln schon die verwitterten Gesteinsmassen unter seinen tastenden Fingern ab. – Muss es so sein? Ist Frieden ein frommer Wunsch, ein Hirngespinst, eine Utopie, aber nicht Wirklichkeit? Sind wir also dem Untergang geweiht?
„Wir leben nicht aus dem, was uns die Welt mit gleißenden Farben vortäuscht, wir leben aus Wirklichkeit und Wahrheit.“
Ja, so verzweifelt wäre unsere Lage, wenn wir nur von menschlichen Friedenbemühungen abhängig wären, wenn wir nur diplomatischen Klügeleien und Spitzfindigkeiten preisgegeben wären. Es ist aber nicht so. Als evangelische Christen wissen wir, dass Gott über unserem Leben waltet. Wir glauben erst recht an den Frieden Gottes und an seine rettende Macht, nachdem wir die Ohnmacht aller menschlichen Friedenbestrebungen erkannt haben. „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht”, hat der scheidende Heiland gesagt2.
– Von der Welt erwarten wir keinen Frieden. Sie kann nur geben, was sie hat. Sie hat den Frieden nicht, also kann sie ihn auch nicht geben. Nachdem wir nun enttäuscht worden sind, d. h. nachdem wir von der Täuschung losgeworden sind, setzen wir unsere ganze und letzte Hoffnung in Jesus Christus, den Sohn des lebendigen Gottes. Der säbelrasselnde, waffenklirrende Frieden, den die Welt gibt, ist Täuschung, ist Betrug. Gottes Frieden, den Jesus gibt, ist Wirklichkeit d. h. wahrhaftig und wirksam. Drum los von der Täuschung! Wir leben nicht aus dem, was uns die Welt mit gleißenden Farben vortäuscht, wir leben aus Wirklichkeit und Wahrheit. Darum mutig durchgedrungen zum wirklichen Frieden Gottes, aus dem das wahre Leben strömt. –
Er rüstet den alten Menschen ab mit seiner Selbstsucht, mit seinem lieblosen rechthaberischen Gebaren, und rüstet den neuen Menschen aus mit Gottes- und Nächstenliebe. Der durch Gottesfrieden von innen heraus erneuerte Mensch lebt friedlich und stiftet Frieden in Familie und Staat. Er wird sich auch niemals durch politische Leidenschaften oder politische Spannungen zwischen anders gesinnten Völkern zu blindem Bruderhass verleiten und verhetzen lassen. Weil er seine Heimat wirklich lieb hat auf eine gute, feine und tiefe Weise, versteht er auch, dass anders denkende und anders empfindende Völker ihr eigenes Vaterland lieben. So erwächst aus dem Nährboden tief empfundener Heimatliebe Verständnis für Menschheit und damit ist dem Frieden am besten gedient.
Frank Stoll
Dezember 1933
1 „familiensimpeln“: auf die Pflege der familiären Beziehungen sehr großes Gewicht legen; widerwillig und gelangweilt sich der Familie widmen müssen (während man lieber anders täte).
2 Johannes 14.27