Ein Jahr vor seinem Tode gab Martin Luther die Zustimmung zu einer Gesamtausgabe seiner Schriften. Zur Warnung der Leser dieser jetzt wieder vorgelegten Frühschriften und zur Orientierung über seine erst allmählich voranschreitende Entwicklung verfasste er für den ersten Band der lateinischen Schriften (1545) eine Vorrede, an deren Schluss er auf seine Entdeckung der „Gerechtigkeit Gottes“ zu sprechen kommt. 
Inzwischen war ich in diesem Jahr (1519) zum Psalter zurückgekehrt, um ihn von neuem auszulegen, im Vertrauen darauf, dass ich geübter sei, nachdem ich St. Pauli Epistel an die Römer und Galater und die an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Ich war von einer wundersamen Leidenschaft gepackt worden, Paulus in seinem Römerbrief kennenzulernen, aber bis dahin hatte mir nicht die Kälte meines Herzens, sondern ein einziges Wort im Wege gestanden, das im ersten Kapitel steht: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (Evangelium) offenbart“ (Römer 1,17).
Ich hatte nämlich dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes“ zu hassen gelernt, das ich nach dem allgemeinen Wortgebrauch aller Doktoren philosophisch als die sogenannte formale oder aktive Gerechtigkeit zu verstehen gelernt hatte, mit der Gott gerecht ist, nach der er Sünder und Ungerechte straft. Ich aber, der ich trotz meines untadeligen Lebens als Mönch, mich vor Gott als Sünder mit durch und durch unruhigem Gewissen fühlte und auch nicht darauf vertrauen konnte, ich sei durch meine Genugtuung mit Gott versöhnt: ich liebte nicht, ja, ich hasste diesen gerechten Gott, der Sünder straft; wenn nicht mit ausgesprochener Blasphemie, so doch gewiss mit einem ungeheuren Murren war ich empört gegen Gott und sagte: „Soll es noch nicht genug sein, dass die elenden Sünder, die ewig durch die Erbsünde Verlorenen, durch den Dekalog mit allerhand Unheil bedrückt sind? Muss denn Gott durch das Evangelium den Schmerzen noch Schmerzen hinzufügen und uns durch das Evangelium zusätzlich seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen?“ So raste ich in meinem wütenden, durch und durch verwirrten Gewissen und klopfte unverschämt (Lukas 11,5-10) bei Paulus an dieser Stelle an, mit heißestem Durst zu wissen, was St. Paulus damit sagen will. Endlich achtete ich in Tag und Nacht währendem Nachsinnen durch Gottes Erbarmen auf die Verbindung der Worte, nämlich: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.“ Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes so zu begreifen, dass der Gerechte durch sie als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben; ich begriff, dass dies der Sinn ist: offenbart wird durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes, nämlich die passive, durch die uns Gott, der Barmherzige, durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt aus dem Glauben.
Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte sich mir sogleich die ganze Schrift von einer anderen Seite. Von daher durchlief ich die Schrift, wie ich sie im Gedächtnis hatte, und las auch in anderen Ausdrücken die gleiche Struktur, wie: das Werk Gottes, d.h. was Gott in uns wirkt, die Kraft Gottes, mit der er uns kräftig macht, die Weisheit Gottes, mit der er uns weise macht, die Stärke Gottes, das Heil Gottes, die Herrlichkeit Gottes. Nun, mit wieviel Hass ich früher das Wort „Gerechtigkeit Gottes“ gehasst hatte, mit umso größerer Liebe pries ich dieses Wort als das für mich süßeste; so sehr war mir diese Paulusstelle wirklich die Pforte zum Paradies. Später las ich Augustins „De spiritu et littera“, wobei ich unverhoffter Weise darauf stieß, dass auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich interpretiert: (als die Gerechtigkeit) „mit der uns Gott bekleidet, indem er uns rechtfertigt“. Und obwohl dies noch unvollkommen gesagt ist und Augustin von der Anrechnung nicht alles klar expliziert, gefiel es mir doch, dass die Gerechtigkeit Gottes gelehrt wird, mit der wir gerechtfertigt werden.
Martin Luther,
Vorrede zum 1. Band der Gesamtausgabe
seiner lateinischen Werke, Wittenberg 1545