Archiv: Le Messager évangélique
Es ist viel gesagt und geschrieben worden über die vielseitige Begabung und die unglaubliche Arbeitskraft Albert Schweitzers. Man darf sich aber nicht vorstellen, dass ihm alles wie von selbst zugeflogen sei. Davon zeugt unter andern die Niederschrift einer Predigt, die er in der Passionszeit 1901 gehalten hat. Gewiss, es war das erste Jahr seiner Predigttätigkeit, aber eben deshalb! Das Predigtmanuskript ist überschrieben: „10.3.01 – Morgenpredigt über Mc 14,32-42 zu St-Nicolai. Gethsemane Der Heiland der Schwachen, der Heiland derer, die im Unglück versucht haben.“
Die Predigt ist vom ersten bis zum letzten Wort ausgeschrieben – in jener kleinen klaren Schrift, die sich sein ganzes Leben lang gleich blieb – auf zwei großen Bogen von 34x22 cm. Das zweite Blatt ist bis ganz unten vollgeschrieben, der letzte Satz quer der Lägen nach auf dem weißen Rand. Dann folgt in französischer Sprache die Notiz: „Geschrieben Samstag, den 9.3.01 nach fünf zerrissenen Entwürfen und vier Tagen Arbeit. Albert Schweitzer.“ Auch für Schweitzers Theologie ist diese Predigt aus der Frühzeit charakteristisch. Er sieht in Jesus vor allem und fast ausschließlich das große Vorbild. Das war die Triebkraft seines Lebens. Aber dem ein Worten Ausdruck zu geben, darum hat er gerade bei dem Bericht von Gethsemane schwer ringen müssen. Wir geben hier einige Auszüge aus der Predigt, in denen besonders die „praktische Anwendung“ zum Ausdruckt kommet.
Albert Schweitzer’s Predigt - 1901
Leiden in Glauben an Gott: Das will heißen, dass wir das Leiden nicht ansehen als etwas, das uns von ungefähr oder von den Menschen aus zustößt, sondern es betrachten als etwas, das uns Gott schickt. In jener Stunde in Gethsemane denkt Jesus nicht daran, dass der Hass der Pharisäer und die Charakterlosigkeit des Volkes die Ursache seines Todes ist, sondern er sieht es an als etwas, das von Gott kommt. Das macht ihm das Leiden leichter; denn es hilft ihm, den Menschen, die sich so schwer an ihm vergehen, zu verzeihen. Und auch wir, wir würden leichter uns die das Unglück schicken, wenn wir dächten, es kommt von Gott…
Aber der Glaube an Gott macht, das Leiden auch schwerer, denn es liegt darin eine Versuchung des Glaubens. Fast möchte man die Menschen beneiden, die in stolzem Trotz alles Übel hinnehmen als etwas, was durch die Umstände oder eine finstere Macht ihnen zustößt, weil es ja keinen Gott gibt, wie sie sagen. Denn für den Christen ist alles Übel, das ihm begegnet, eine Versuchung des Glaubens. Es liegt in dem Übel auf der Welt für den, der an Gott glaubt, ein Geheimnis, mit dem kein Mensch fertig wird. Wie kann Gott, der allmächtig ist, es zulassen, dass auf dieser Welt unter seinen Geschöpfen so viel Unglück und Elend ist? Aber nicht nur das, sondern unser Glaube will, dass wir gewiss sind, an allem Übel das er in die Welt schickt soll sich seine Güte offenbaren, denn das ist von Gott bestimmt. Gutes zu wirken.
Manchmal ahnen wir ja die Wege Gottes, und wer von uns in sein Leben zurückblickt, der wird sich sagen: Das und das, was du damals als ein so großes Unglück für dich angesehen hast, das war der Weg Gottes, um dich zum Glück zu führen. Aber unser Erkennen dringt nicht ein in Gottes Wege. Da sind schwere Schläge, die den Einzelnen, die ganze Völker treffen; und keiner vermag zu sagen warum. Wer wollte sich vermessen, zu sagen, was diese Fluten, die in den letzten Jahren ganze Küstenstriche mit ihren Bewohnern verschlungen habe, in Gottes Rat bedeuten sollen? Und doch sollen wir als Christen glauben, alles übel führt Gott zum Guten? Darum bildet jedes große Unglück für den, der da glaubt, eine Versuchung des Glaubens…
Freilich, Menschen und Trost von Menschen helfen in solchen Stunden nichts, sondern der Mensch muss allein sein mit seinem Gott. Jesus hatte wohl die Geliebtesten unter seinen Jüngern um sich haben wollen, dass sie ihm beistünden – und als die Anfechtung kam, da schliefen sie. Aber er kämpft sich zum Frieden durch das Gebet; und wer von den Menschen in einem großen Unglück oder an einem Totenbett diese Anfechtung überwindet, der tut es nur wie Jesus in der Kraft des Gebets. Was in einer solchen Seele vorgeht, die im Gebet mit Gott ringt, bis sie sprechen kann: „nicht wie ich will, sondern wie du willst“, das kann menschliche Sprache nicht ausdrücken. Eines aber wissen wir: Wer in jenen Augenblicken im Hinblick auf Jesus in Gethsemane zu Gott betet, der ringt sich zur Ergebung durch. Vor einigen Jahren vernichtete ein Hagelschlag in einem Gau des Unterelsasses die gesamte Ernte zwei Wochen vor der Ernte. Als nun am Sonntag drauf der Prediger auf die Kanzel stieg vor den Leuten, die alles verloren hatten, da musste er nicht, was er zu ihnen sagen sollte. Alle menschliche Erklärung oder gar: „das hat Gott euch zur Strafe gesandt“ oder „er hat dieses Unglück über euch kommen lassen, dass ihr in euch geht“, wollten nicht über seine Lippen. Da redete er über Gethsemane. Und als er ihnen dort Jesus zeigte, wie er den Willen seines Vaters nicht versteht und doch im Gebet sich zur Ergebung in Gottes geheimnisvolles Walten durchringt, da ging es wie ein Friedenshauch durch die Gemeinde, und die Fragen „warum musste das uns geschehen?“ wurden stille in dem Wort Jesu: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“
Le Messager évangélique – Januar 1975
Foto: „Geschrieben Samstag, den 9.3.01 nach fünf zerrissenen Entwürfen und vier Tagen Arbeit. Albert Schweitzer.“
1b quai Saint Thomas
67000 STRASBOURG
03 88 25 90 80